04.12.2014

Kapitel 1


Eine Stunde war bereits vergangen und ich saß immer noch

zusammengekauert vor der Mülltonne, der Zeitungsbericht über den Tod des jungen Manns lag zu meinen Füßen.

Fassungslos starrte ich vor mich hin, die Knie fest an

meinen Oberkörper gezogen und mit ganzer Kraft umklammert, als könnten sie mir irgendeine Art von Halt geben, doch das taten sie nicht.

Mit zittrigen Händen wischte ich mir die Tränen weg, die

langsam, aber stetig aus meinen Augen quollen und meinen Blick immer wieder verschwimmen ließen, doch sofort kamen neue nach. Um mich selbst zu beruhigen, begann ich sanft hin und her zu schaukeln und dabei tief ein und aus zu atmen, doch es nutzte nichts.

Das konnte einfach nicht wahr sein! Nein: Das durfte

einfach nicht wahr sein! Ich war doch kein Monster?!

Bist du nicht? Schließlich hast du euer ganzes Haus

verwüstet. - Eine kleine Stimme meldete sich in meinem Kopf zu Wort und begann mir Vorwürfe zu machen.

Ich konnte nichts dafür, antwortete ich in Gedanken.

Hast arme, wehrlose Hühner gefressen …

Sicher nicht mit Absicht.

Hast Amilia umgebracht …

Hab ich nicht!, wehrte ich mich innerlich dagegen.

Nein?, höhnte die freche Stimme. Vielleicht ist sie noch

nicht tot, aber du hast es selbst gerochen. Lange wird es nicht mehr dauern …

Liam wird ihr helfen!

Liam muss ihr sein Blut geben. Und sie wird immer mehr

davon brauchen …

Er wird ein Gegenmittel finden!

Nicht, wenn die Zeit das Problem vorher erledigt …

Amilia ist kein Problem!

Tu doch nicht so scheinheilig. Ist es nicht genau das, was

du immer wolltest? Sie für immer loswerden?

Aber doch nicht so!

Nein? Und warum hast du sie dann umgebracht?

Ich habe sie nicht umgebracht!

Vollkommen entnervt legte ich die Stirn auf meine Knie

und raufte mir mit beiden Händen die Haare.

Okay, wenn es dir damit besser geht: Warum hast du sie

FAST umgebracht?

Es war ein Unfall!

Jemanden umzubringen ist nicht nur ein »Unfall«, tadelte

die Stimme weiter.

Ich konnte nichts dafür!, beteuerte ich erneut. Wer hätte

denn ahnen können, dass mein Biss einem Werwolf so schadet? Ein leiser Schluchzer entwich meiner Kehle.

Na ja, wenigstens hast du das Mädchen nur fast getötet …,

höhnte die Stimme, als wollte sie mich an den jungen Kerl aus der Zeitung erinnern.

Verzweifelt vergrub ich mein Gesicht in meinen Händen.

Ich war doch extra weit weggebracht worden!

Was ja sehr viel genutzt hat …

Hör auf! Liam hat gesagt, ich wäre viel zu weit weg

gewesen, um es nach Hause schaffen zu können.

Du hattest wundgelaufene Fußsohlen … Und das sogar als

Werwolf …

Hör auf, habe ich gesagt! Das hätte auch ein anderer

Werwolf gewesen sein können. Oder wirklich ein wildes Tier.

Tz, tz, tz … Ausreden, nichts als Ausreden, mäkelte die

Stimme weiter.

Ich hielt mir mit beiden Händen die Ohren zu und presste

sie so fest gegen meinen Kopf, dass es schon wehtat, doch ich wollte die Stimme endlich aus meinem Kopf verbannen.

Du bist genau das, was Amilia gesagt hat! Ein

unkontrollierbarer Killer! Also wehr dich nicht dagegen, sondern lass es zu. Du wirst dich besser fühlen, wenn du aufhörst,

dich gegen dein neues Ich zu stellen.

Ich bin kein Killer! Außerdem würde ich doch nie einen

Menschen umbringen. An sowas habe ich niemals auch nur einen Gedanken verschwendet!

Hast du denn vorher schon mal daran gedacht, Hühner zu

töten?, reizte die Stimme weiter.

Natürlich nicht!

Wem willst du eigentlich etwas vormachen? Du bist ein

Killer.

Nein! Das bin ich nicht!

Du bist ein Killer …

Hör auf damit!

Killer, Killer, Killer …

Hör sofort auf damit und sei endlich still!, schrie ich.

Ich sprang auf und schlug wie wild mit den Armen um

mich, da prallte ich plötzlich gegen etwas Hartes. Starke Arme umschlossen mich und hielten mich fest, während ich mit aller Kraft immer weiter um mich schlug und versuchte, mich zu befreien.

»Emma … sch … beruhige dich. Ich bin's doch nur.«

Doch ich wehrte mich weiter.

»Emma! Bitte! Hör jetzt auf!«

Liam musste richtig energisch werden, bis mein Gehirn

seine Worte registrierte und mein Körper seine Abwehrhaltung aufgab. Völlig verängstigt sackte ich in seinen Armen zusammen und begann jämmerlich zu schluchzen.

»Sch … ist doch gut. Alles wird gut. Sch … beruhige dich.«

Sein monotoner Singsang machte die Situation keinen

Deut besser, doch allein die Tatsache, dass er einfach dastand und mich festhielt, tröstete mich.

Nachdem ich mich etwas beruhigt hatte, ergriff Liam

erneut das Wort: »Was ist denn überhaupt los, Emma?«

Ich hob den Kopf und blickte in dunkle Augen, die

erschrocken zurückstarrten. Ich überlegte kurz, dann antwortete ich: »Nichts.«

Liam riss ungläubig die Augenbrauen nach oben.

»Nichts?!«

Ich zögerte kurz. »Es ist nichts. Ich hab nur … schlecht

geträumt.«

Nun wurde sein Blick skeptisch. »Danach sah es aber ganz

und gar nicht aus.«

Ich zuckte gleichgültig mit den Schultern, als wüsste ich

nicht, auf was er hinauswollte, doch so schnell ließ er sich nicht abwimmeln.

»Emma, ich habe dich reden hören.«

Jäh wich mir die Farbe aus dem Gesicht. Was sollte ich ihm

sagen? Die Wahrheit? Doch was war überhaupt die Wahrheit? Dass ich anfing, verrückt zu werden? Dass ich jetzt nicht nur eine Mörderin war, sondern auch noch eine verrückte Mörderin? Was, wenn er dann nichts mehr mit mir zu tun haben wollte?

»Komm, ich bring dich erst mal in dein Zimmer. Danach

reden wir.«

Während ich noch krampfhaft darüber nachdachte, was ich

ihm gleich sagen sollte, schob er mich gezielt vor sich her, bis wir die Haustür erreicht hatten. Da ich zu keiner Reaktion fähig war, klingelte Liam für mich.

»Guten Morgen, Liam«, begrüßte mein Dad uns

überrascht. »Müsst ihr nicht zur Schule? Ich dachte, Emma sei schon längst unterwegs?«

Liam sah mich bekümmert an, dann wieder zu meinem

Vater. »Doch, Mr Forsyth. War sie auch. Emma ist auf dem Weg zur Schule zusammengeklappt und da habe ich sie wieder nach Hause gebracht.«

Mein Dad musterte mich, doch ich starrte nur leer vor mich

hin.

»Was ist denn los, Spätzchen? Warum weinst du denn?«

Als ich nicht antwortete, ergriff Liam erneut das Wort.

»Vermutlich hat sie sich vorhin wehgetan, als sie hingefallen ist«, log er.

Mein Vater grinste. »Ach Spätzchen, so schlimm wird das

doch nicht gewesen sein«, sagte er fürsorglich und klopfte mir auf die Schulter.

Als ich wieder nicht antwortete, brachte mich Liam hoch in

mein Zimmer.

Dort angekommen setzte ich mich kommentarlos auf mein

Bett und eine Träne nach der anderen kullerte über meine Wangen.

Liam kniete sich vor mich und hielt meine Hände.

»Emma, was ist denn nur los?«

Wieder keine Reaktion.

»Bitte, sag doch endlich was!«, flehte er.

Da fasste ich mir ein Herz. »Ich … bin …«, begann ich,

doch meine Stimme brach weg. »Ich bin …«, setzte ich erneut an, doch auch dieses Mal kam ich nicht weiter.

»Du bist?«, versuchte Liam mir zu helfen. Doch plötzlich

machte sich wieder diese schreckliche Unsicherheit in mir breit. Sollte ich ihm wirklich sagen, dass ich die Mörderin des jungen Mannes war? Dass ich plötzlich Stimmen in meinem Kopf hörte und vorhin mit mir selbst gesprochen hatte?

Wie viel konnte eine junge Liebe verkraften? Würde Liam zu mir halten? Oder stattdessen nie wieder ein Wort mit mir wechseln? Das wäre immerhin möglich oder sogar noch wahrscheinlicher, denn: Wer wollte schon eine

geistesgestörte Mörderin als Freundin haben?

Selbstzweifel überfielen mich und ich machte einen

Rückzieher.

»Ich bin einfach so schrecklich besorgt um Amilia. Ich

wollte ihr nichts tun …«, wich ich aus und zu meiner Überraschung hörte sich das weitaus glaubwürdiger an, als ich selbst gedacht hatte. Vermutlich, weil ich mir

tatsächlich Sorgen um Amilia machte.

Pah! Du Feigling! Du scheinst ja viel Vertrauen in eure

Liebe zu haben, wenn du Liam nicht mal die Wahrheit sagen kannst, meldete sich wieder die fiese, kleine Stimme in meinem Innern zu Wort, doch ich versuchte sie zu ignorieren.

Liam nahm meine Hand und küsste sie zärtlich. »Ich weiß,

dass das schwer für dich ist, aber wir kriegen das schon hin, Emma. Glaub mir.«

Er setzte sich neben mich und nahm mich fest in seine

Arme. Ich kuschelte mich hinein und fühlte mich auf einmal so geborgen. Solange er mich festhielt, hatte ich wirklich das Gefühl, dass alles wieder in Ordnung kommen könnte, doch als er mich irgendwann wieder losließ, fühlte ich mich verlassen

und die nackte Wahrheit begann erneut an mir zu nagen.

Mal sehen, wie lange er dich noch so in den Arm nimmt …

Ich wischte mir die Tränen weg, aber sie wollten einfach

nicht versiegen.

Angeblich legt Liams Familie doch so großen Wert darauf,

niemandem Schaden zuzufügen. Was ihr Mustersöhnchen wohl dazu sagt, wenn er herausfindet, dass seine Freundin eine Mörderin ist?

Eine weitere Träne stahl sich aus meinem Augenwinkel.

Mein Gewissen hatte Recht: Liam würde das sicher nicht gutheißen und wenn ich ehrlich war, wüsste ich auch nicht, ob ich damit umgehen könnte, wenn er jemanden umgebracht hätte.

»Hey «, sagte Liam und holte mich damit aus meinen

Gedanken. »Es wird alles wieder gut, hörst du?«

Ich nickte, konnte aber nicht verhindern, dass es wenig

überzeugend wirkte. – Und wenn ich es ihm doch einfach sagte? Wäre ein Ende mit Schrecken nicht besser, als ein Schrecken ohne Ende?

Ich haderte mit mir, doch bevor ich mich dazu

entschließen konnte, bot mir Liam eine bequemere Lösung an.

»Du grübelst weiter über Amilia, hm?«, mutmaßte er.

Kurz überlegte ich noch, dann nickte ich.

»Wie geht es ihr?«, fragte ich vorsichtig, in der Hoffnung,

hier eine bessere Nachricht zu hören.

»Ganz gut soweit. Das Blut scheint ihr zu helfen.« Liam

lächelte und ich erwiderte es zaghaft.

»Da bin ich aber froh«, sagte ich und das meinte ich auch

so. Klar, wir hatten unsere Differenzen. Doch die Zeiten hatten sich geändert – kaum vorstellbar für einen, der nicht schon mal in solch einer furchtbaren Situation gewesen war. Also quasi für keinen, aber es war wirklich so.

»Wie geht es jetzt weiter?«

»Wir lassen Amilia sich ein bisschen erholen und sobald sie

wieder in der Schule ist, fängst du an, bei ihr Unterricht zu nehmen, okay?«

Ich nickte.

»Ich werde derweil versuchen herauszufinden, ob

irgendwer etwas von einem Werwolf gehört hat, der absichtlich Menschen in seinesgleichen verwandelt.«

Wieder nickte ich. »Und was ist mit dem nächsten

Vollmond?«

»Wir bauen erst mal darauf, dass Amilias Methoden etwas

nutzen. Zudem werden wir dich zum nächsten Vollmond noch höher in die Berge bringen.«

Betreten sah ich zu Boden. Wie schrecklich das alles war!

Liam fasste mir unters Kinn und hob meinen Kopf sanft an.

»Vielleicht habe ich bis dahin ja auch deinen Beißer

gefunden.«

Ich schaute ihn an, spürte aber gleichzeitig, wie mir schon

wieder die Tränen kamen.

»Hey.« Er streichelte mit seinem Daumen über meine

Wange und wischte mir eine Träne weg. »Du weißt doch noch, was ich dir versprochen habe?«

Mühsam rang ich mir ein Lächeln ab. Es tat gut zu wissen,

dass Liam hinter mir stand.

Würde er das auch noch tun, wenn er wüsste, zu was du

fähig bist?

Ich versuchte, mein Gewissen verstummen zu lassen, doch

es gelang mir nicht.

Also ich würde ja nichts mehr mit einer Mörderin zu tun

haben wollen. Und er sicher auch nicht. Was er wohl sagen wird, wenn er erfährt, dass du ihm das so lange verheimlicht hast? Ob das die Sache schlimmer macht? Obwohl … wie sollte man solch eine Sache noch schlimmer machen? Was könnte einen Mord noch übertreffen?

»Emma? Ist alles in Ordnung?« Liam hatte mich an der

Schulter gepackt und leicht gerüttelt.

»Äh … ja, klar.«

Zweifelnd sah er mich an. »Du wirkst nicht so.«

Ich spürte, wie mir heiß wurde. Hatte er etwas gemerkt?

»Nein, nein, es ist alles gut.« Ich versuchte ihn

aufmunternd anzuschauen, doch ich war sicher, dass mir auch das nicht gelang.

Liam stand auf. »Na gut. Am besten spreche ich zuerst

noch einmal mit White. Er muss sowieso -«

Doch ich sprang ebenfalls auf. »Lass mich nicht allein!

Bitte!« Flehend sah ich ihn an, während meine Hand fest seinen Arm umklammerte.

»Ist wirklich alles in Ordnung mit dir?« Liam lächelte leicht,

doch es war genauso falsch wie mein aufmunternder Blick gewesen war. Sein Gesichtsausdruck glich vielmehr dem eines Psychologen, der versuchte, einen Verrückten in Schach zu halten, bevor er sich mit einer Beruhigungsspritze auf ihn stürzte.

Unsicher sah ich ihn an.

»Ja, wirklich«, stammelte ich. »Ich möchte nur gern dabei

sein.«

Liam nickte zögerlich. »Ich hätte dich sowieso

mitgenommen.«

Mein Griff entspannte sich wieder, ich ließ ihn aber nicht

los. »Danke.«

»Dafür nicht.«


Teil von Kapitel 2



Hand in Hand gingen Liam und ich hinunter und erzählten meinen Eltern, dass wir doch noch in die Schule wollten. Stattdessen machten wir uns wie geplant auf den Weg zu Dr. White.

Während der Autofahrt sprachen Liam und ich kein Wort

miteinander. Er schien angestrengt nachzudenken und auch ich machte mir Gedanken, wie wir meinen Beißer bloß ausfindig machen sollten.

Nach einer gefühlten Ewigkeit waren wir endlich

angekommen.

»Liam, Emma.« White kam bereits aus der Haustür heraus

und begrüßte uns freundlich. »Schön, euch zu sehen. Wie geht es euch?«

Liam blickte fast unmerklich in meine Richtung. »Ganz gut

soweit«, antwortete er für uns beide.

»Was führt euch zu mir?«

»Können wir das drinnen besprechen?« Liam schaute sich

um und auch wenn es nur eine unauffällige Geste war, sah ich an seinen leicht bebenden Nasenflügeln, dass er etwas witterte.

»Da bin ich aber neugierig. Natürlich, kommt herein.«

Wir folgten White in seine Wohnung und setzten uns auf

die Couch – die gleiche, auf der er mich behandelt hatte.

»Was war eben?«, flüsterte ich Liam zu, doch dieser gab

mir mit einem »Später« zu verstehen, dass wir dieses Gespräch nicht jetzt führen sollten.

»Also? Ich bin ganz Ohr«, sagte White und sah uns

gespannt an.

»Wir würden gern wissen, wie weit du mit der Recherche

bist. Hast du schon jemanden ausfindig machen können, dessen Viren denen von Emma gleichen?«, fragte Liam hoffnungsvoll.

»Das habe ich tatsächlich.«

Meine Augen wurden groß. »Sie haben meinen Beißer

bereits gefunden?«

Doch da schüttelte er den Kopf. »Nein, Emma. Das habe

ich leider nicht. Ich habe nur herausgefunden, dass die Viren der Werwölfe, die sich umgebracht haben, mit deinen übereinstimmten. Das bestätigt zumindest unsere

Vermutung -«

»- dass ihr alle von dem gleichen Werwolf gebissen

wurdet«, beendete Liam den Satz.

»Das ist richtig, Liam.«

Ich nickte niedergeschlagen.

»Mach dir keine Sorgen. Wir werden ihn finden.« Liam

legte beruhigend seine Hand auf meinen Oberschenkel und drückte sanft zu, doch ich konnte meine Enttäuschung nicht unterdrücken.

Natürlich war mir klar, dass das vermutlich alles nicht so

einfach gehen würde. – Das wäre ja auch zu schön gewesen. Trotzdem bekam ich direkt ein ungutes Gefühl. Was wäre, wenn wir meinen Beißer erst in ein paar Jahren finden würden? Oder am Ende gar nicht?

»Wenn Liam das sagt, solltest du ihm vertrauen.« White

tätschelte aufmunternd meinen Arm. »Außerdem habe ich gerade mal die Daten derer durch, die regelmäßig bei mir in Behandlung waren. Die, die nur ab und zu mal kommen oder irgendwann mal bei mir in Behandlung waren, fehlen alle noch. Und das sind noch einige.« White lächelte mich an und ich schaute möglichst dankbar zurück.

»Was habt ihr jetzt vor?«, fragte White, mehr an Liam

gewandt als an mich.

»Wenn in gut zwei Wochen die Sommerferien anfangen,

wollte ich mit Emma den Clearwater-Clan besuchen. Vielleicht weiß das Rudel ja mehr.«

White nickte verstehend, doch mir lief es kalt den Rücken

hinunter.

»Wir wollen erst mit der Suche beginnen, wenn die

Sommerferien angefangen haben? Warum?«

»Weil der Clan für einen Wochenendausflug einfach zu weit

weg wohnt.«

»Können wir dann nicht einfach ein paar Tage Schule

schwänzen?«

»Nein, Emma. Wir müssen alles so normal wie möglich

handhaben. Sollte der Beißer aus unserem näheren Umfeld stammen, möchte ich nicht, dass er bereits merkt, dass wir nach ihm suchen und er womöglich seine Spuren beseitigt.«

»Aber …«

»Aber?«

»Was ist, wenn wir ihn dann nicht finden? Dann haben wir

zwei Wochen umsonst verstreichen lassen und nur noch zwei weitere, bis wieder Vollmond ist«, sagte ich leise.

»Ich habe dir doch gesagt, in dem Fall werden wir dich

weit genug wegbringen, damit nichts passieren kann.«

White spitzte die Ohren. »Was soll denn passieren?«

»Emma hat Angst, dass noch mal so etwas wie mit Amilia

passiert«, antwortete Liam, doch White sah nicht wirklich überzeugt aus.

Er weiß es … Er weiß, dass du eine Mörderin bist. Er weiß

es, meldete sich die Stimme in meinem Kopf zurück.

Ich spürte, wie mir die Farbe aus dem Gesicht wich. War

das möglich? Hatte er sich bereits einen Reim auf den Toten und meine wundgelaufenen Fußsohlen gemacht?

Natürlich hat er das. Er ist Arzt.

Ich schluckte.

Mal sehen, wie lange es dauert, bis dein geliebter Liam es

herausfindet.

»Liam, können wir mal kurz unter vier Augen reden?«, bat

White.

Ha! Jetzt will er es ihm bestimmt erzählen. Und dann bist

du aufgeflogen. Wie Liam wohl darauf reagieren wird?

»Warum?«, mischte ich mich ins Gespräch ein, auch wenn

es mir schwerfiel, mich zu konzentrieren, da die Stimme in meinem Kopf einfach nicht die Klappe halten wollte.

»Ich habe keine Geheimnisse vor Emma. Wenn du was zu

sagen hast, mach es in ihrem Beisein«, hörte ich Liam sagen, doch ich wurde schon wieder abgelenkt.

Ob der Doktor dich jetzt outet? Hast du schon Angst?,

frotzelte die Stimme weiter.

»Ach … lass uns das Gespräch einfach verschieben«,

wiegelte White ab. »So wichtig war es auch nicht.«

Na, da hat aber jemand Glück gehabt! Mal sehen, wie

lange es anhält …

»Gut. Emma und ich wollten jetzt sowieso gehen.«

White ist eine tickende Zeitbombe. Du solltest etwas

dagegen unternehmen.

Aber was?, fragte ich mich innerlich.

Präge dir seinen Geruch gut ein. Und dann besuchst du ihn

zum nächsten Vollmond …

Ohne es zu wollen, holte ich tief Luft und sog den Duft des

Doktors ein.

»Nein!«, rief ich sogleich entsetzt und schlug mir mit der

Hand auf den Mund, als ich realisierte, dass ich das tatsächlich laut gesagt hatte.

»Nein?« Liam sah mich verblüfft an und auch White

beäugte mich mit einer Mischung aus Neugier und Reserviertheit.

»Ich … äh … ich … mir ist noch was eingefallen.«

Jetzt starrten mich beide erwartungsvoll an. Na toll,

Emma! Lass dir schnellstmöglich etwas einfallen.

»Ich wollte … äh … nur noch mal daran erinnern, dass Sie

uns bitte Bescheid geben, wenn Sie Neuigkeiten haben, ja?«

Nun schien der Doktor vollends misstrauisch zu werden.

»Selbstverständlich, Emma. Und es ist wirklich alles in

Ordnung mit dir?«

»Ja, natürlich.« Ich lächelte verschämt.

Nachdenklich sah White zu Liam, der etwas hilflos

zwischen uns beiden hin und her schaute. Doch dann stellte sich mein Freund neben mich und zog mich beschützend an sich heran.

»Selbstverständlich. Wenn irgendetwas nicht stimmen

sollte, würde Emma es mir sagen.«

Autsch! Wenn ich bisher noch kein schlechtes Gewissen

hatte, dann spätestens jetzt.

Ei, ei, ei! Was wird Liam nur sagen, wenn er alles erfährt?

Er vertraut dir und du lügst ihn in einer Tour an.

White warf Liam einen letzten, vielsagenden Blick zu,

begleitete uns dann aber zur Haustür und verabschiedete sich.

Denk an den Geruch. Präge ihn dir ein und entledige dich

deines Problems.

Ich versuchte nicht hinzuhören, sondern konzentrierte

mich darauf, einen normalen Gesichtsausdruck zu machen, während ich zu Liam ins Auto stieg und White zum Abschied winkte.


***


Nachdem wir losgefahren waren, sah Liam mich an.

»Was war das eben?«

»Was denn?«, fragte ich unschuldig.

»Na, dein abruptes Aufspringen und dein Aufschreien«,

antwortete Liam und seine Augen sagten »Tu doch nicht so.«

»Äh … hatte ich doch erklärt, oder?«

»Ich mag es nicht, wenn du mich anlügst«, stellte er fest

und mir wurde ganz heiß.

»Ich … äh …«

»Du wolltest vorhin etwas anderes sagen, hab ich Recht?«

Ein schuldbewusstes Nicken. Ich hatte furchtbare Angst,

Liam die Wahrheit zu sagen. Was würde er danach von mir halten? Würde er überhaupt noch mit mir sprechen? Oder würde er nichts mit einer Verrückten zu tun haben wollen?

»Was meinst du, was das für ein Geruch war? Kanntest du

ihn?«

»Wie bitte?« Verwirrt schaute ich Liam an.

»Das war doch das, was du White eigentlich fragen

wolltest, oder? Was das für ein Geruch war.«

Verdattert nickte ich. Stimmt. Jetzt wo er es sagte: Es

hatte beim Aussteigen aus dem Auto tatsächlich merkwürdig gerochen, aber ich war zu beschäftigt mit mir selbst gewesen, als dass ich darauf genauer hätte achten können.

»Äh … ja, genau«, pflichtete ich ihm bei.

»Irgendwie klingelt da was in meinem Gehirn. Ich weiß nur

nicht so ganz genau, was«, sinnierte Liam weiter.

Ich zuckte ratlos mit den Schultern. Hätte ich besser

aufgepasst, hätte ich Liam vielleicht helfen können, doch leider wurde ich anderweitig auf Trab gehalten. Und zwar von meinem Gewissen, welches mir seit neuestem lautstark seine Meinung mitteilte. Oder waren das bereits Anzeichen dafür,

dass ich tatsächlich verrückt wurde? So wie die anderen verwandelten Werwölfe, die sich das Leben genommen hatten?

Woran merkte man sowas eigentlich? Und wer merkte es

zuerst? Man selbst? Oder die Leute, mit denen man zu tun hatte?

Plötzlich griff mir eine Hand auf den Oberschenkel.

Da ich so in Gedanken versunken war, erschrak ich

natürlich erst mal.

»Emma, ich weiß, ich wiederhole mich. Aber ist wirklich

alles gut bei dir?«

Ich blickte Liam an, sah tief in seine dunkelbraunen Augen,

so voller Liebe und Sorge. Dann nickte ich.

»Warum fragst du mich das ständig?«, entgegnete ich,

doch wollte ich die Antwort wirklich hören? Bekam ich jetzt gesagt, dass er bemerkte, wie ich mich langsam, aber sicher veränderte? Oder war das noch zu früh?

»Du bist heute ungewöhnlich still«, erklärte er. »Denkst du

viel nach?«

Ich nickte.

»War alles ganz schön viel für dich in letzter Zeit, was?«

Mitfühlend nahm er meine Hand und streichelte mit seinem Daumen über meinen Handrücken.

Wieder nickte ich.

»Ich mach dir einen Vorschlag: Wir fahren zu mir nach

Hause und dann bekommst du eine Entspannungsmassage.«

»Zu dir nach Hause?« Ich schluckte, da ich an Finger-

Brecher-Florence und Todesblick-zuwerfende-Liam-Schwester dachte. »Ist deine Mom auch da?«, fragte ich vorsichtig.

»Ja.«

»Und deine Schwester auch?«

»Vermutlich ja. Bis wir zurück sind, ist die Schule zu

Ende.«

»Hm.«

»Stimmt was nicht?«

Statt zu antworten, versuchte ich es mit einer Gegenfrage.

Eine Frage, die mir sowieso schon lange auf dem Herzen brannte: »Warum sind deine Schwester und deine Mom eigentlich so nett zu mir?«

Liam schaute mich an. Er verstand. »Nimm das nicht

persönlich, Emma. Weibliche Werwölfe sind furchtbar besitzergreifend und territorial, wie du bestimmt schon gemerkt hast.« Dann zwinkerte er lässig.

»Hm«, machte ich erneut.

»Aber du musst dir keine Gedanken machen. Sie werden

ab jetzt etwas netter zu dir sein.«

»Warum?«

»Dein Status hat sich geändert.«

»Mein Status?«

»Na ja, du bist jetzt nicht mehr nur ein Mensch.«

»Nur ein Mensch? Rassistisch sind sie also auch noch?!«,

krächzte ich entrüstet.

Liam konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Ich hab dir

doch gesagt, dass Werwölfe sich nur unter ihresgleichen umsehen. Sie halten Menschen für minderbemittelt und da waren sie nicht gerade erbaut darüber, dass ich mir ein Menschenmädchen angelacht habe. Hinzu kommt, dass du Alpha-Qualitäten hast und ihnen ihren Rang streitig machen könntest.«

Ich wusste nicht warum, aber bei der Aussicht, Liams Mom

oder Schwester irgendetwas streitig machen zu können, freute ich mich innerlich. Doch mich störte an der Erklärung noch etwas anderes.

»Minderbemittelt?«, hakte ich nach.

»Also …« Liam griff sich verlegen in den Nacken. »Es ist ja

nicht bestreitbar, dass Werwölfe eine viel schnellere Auffassungsgabe haben, stärker sind, alle Sinne besser ausgebil -«

»Ich kotz gleich!«, unterbrach ich ihn.

»Tut mir leid, aber du hast gefragt. Außerdem ist das nicht

meine Ansicht, sondern die allgemeine unter Werwölfen.«

Ich schnaubte. »Und uns halten sie für minderbemittelt.«

Liam grinste frech.

»Warum ist dein Dad nicht so? Und warum hast du mich

normal behandelt?«

Nun war Liam an der Reihe ein entrüstetes Schnauben

verlauten zu lassen.

»Ich habe dich nicht normal behandelt, ich habe dich

umgarnt. Schön, dass es dir aufgefallen ist«, empörte er sich.

Sein beleidigter Tonfall zauberte mir ein Lächeln aufs

Gesicht. Liam ließ sich nicht oft zu solch »kindischem« Verhalten hinreißen, doch wenn es mal vorkam, war es unglaublich süß.

Versöhnlich legte ich ihm meine Hand auf den Arm,

wodurch er schlagartig ruhiger wurde.

»Und warum hast du mich umgarnt? Wenn ich doch nur

ein Mensch bin?«

»Weil ich in dir so viel mehr sehe, als ein bildhübsches,

intelligentes Mädchen, welches fantastisch malen kann.«

Mir wurde ganz warm ums Herz.

»Außerdem ist es ein Unterschied, ob du auf ein Weibchen

oder auf ein Männchen triffst.«

»Sind die Männchen netter?«

»Das würde ich so nicht sagen … Andere Weibchen sehen

in dir Konkurrenz, Männchen in dir einen potenziellen Partner. Genauso ist es umgekehrt. Als Faith zum Beispiel Tyler mitbrachte, hatte er es nicht besonders leicht mit meinem Dad und meinen Brüdern.«

»Und mit dir?«

»Auch nicht wirklich …«

Man halte noch mal fest: Wir sprechen hier von den Super-

Werwölfen mit der obergenialen Auffassungsgabe, die in allem ja so viel toller und besser sind als die kleinen, minderbemittelten Menschen. *Hust* Ich verkniff mir jedoch, das laut auszusprechen.

»Ich verstehe«, sagte ich lediglich. »Und was kann ich tun,

damit deine ganze Familie mich mag?«

»Hab Geduld. Die brauchen nur Zeit, um sich an dich zu

gewöhnen.«

Zögerlich nickte ich. Dabei dachte ich an meinen Dad und

wie er sich in meinem Beisein bei männlicher Gesellschaft immer anstellte. Vermutlich war das vergleichbar, nur dass mein Dad eben kein übertrieben aggressiver Werwolf war und sich daher Fingerbrechen und Todesblicke nicht zu Nutze

machen konnte. Lieber schlug er meine potenziellen Verehrer mit Taschenlampen und Spielbrettern in die Flucht.


***


Bei Liam angekommen öffnete uns seine Mutter die Haustür. Sie musterte mich kurz, doch ausnahmsweise bekam ich keinen blöden Spruch zu hören.

Was für ein Fortschritt! Das war wohl die einzig gute

Nebenwirkung des Werwolfdaseins: eine mich halbwegs akzeptierende Schwiegermutter in spe.

Akzeptieren? Ich würde es eher als Dulden bezeichnen.

Oh nein! Bitte, nicht jetzt! Halt die Klappe!, raunzte ich

innerlich mein Gewissen an. Florence würde sicher direkt merken, wenn etwas nicht stimmte.

Warum? Kannst du die Wahrheit nicht verkraften?

Um Haltung bemüht, grüßte ich Florence höflich und ging

mit Liam hinauf in sein Zimmer.

»Leg dich schon mal aufs Bett und mach's dir gemütlich.

Ich hol etwas Öl.«

Hör mal, das ist aber gar nicht nett, mich einfach zu

ignorieren.

»Ist mir egal«, seufzte ich.

»Was ist dir egal?« Liam kam zurück ins Zimmer.

»Wie?«

»Du hast gemeint, dass es dir egal ist. Da wollte ich

wissen, was?«

»Ach … äh … ich hab nur gerade gedacht, wenn das Öl in

meine Haare kommt, werden die ziemlich fettig aussehen. Aber dann sagte ich zu mir selbst, dass es ja auch egal ist. Heute will ich eh nirgendwo mehr hin.«

»Ach so.« Liam lächelte. »Ich kann dich auch ohne Öl

massieren, wenn dir das lieber ist.«

»Ähm … ja, ich glaub schon.«

Eigentlich war es das nicht, doch so konnte ich meine

kleine Notlüge wenigstens etwas untermauern.

»Kein Ding. Möchtest du irgendetwas trinken?«

Jetzt, wo Liam es ansprach, spürte ich erst, wie durstig ich

war. Klar, ich hatte seit heute Morgen nichts mehr getrunken und meine Kehle war wie ausgedörrt.

»Ja bitte«, antwortete ich.

»Was möchtest du?«

»Cola, wenn du hast.«

Liam nickte und ich hörte – dank Werwolfsinnen – wie er

hinunter in die Küche ging und den Kühlschrank öffnete. Na ja, vielleicht hatte Liam doch nicht sooo maßlos übertrieben, was die Fähigkeiten eines Werwolfs betraf.

Leider vernahm ich noch etwas anderes.

»Liam? Kommst du mal bitte?« Es war Liams Mom, die ihn

gerufen hatte.

Ich hörte, wie er einen anderen Raum betrat. Vermutlich

war es das Wohnzimmer.

»Hast du kurz eine Minute? Ich möchte mir dir über Emma

reden.«

Florence sprach zwar unglaublich leise (wahrscheinlich,

weil ich gar nicht mithören sollte), doch mein Gehör funktionierte wohl besser, als sie dachte.

Offenbar schien meine Kraft nicht das einzige zu sein, was

im Vergleich zu geborenen Werwölfen stärker ausgeprägt war.

»Ich hab dir doch schon gesagt, dass du dir keine

Gedanken mehr darüber machen musst. Sie ist jetzt eine von uns.«

Ob Liams Mom bereits Verdacht schöpfte?

Sieht so aus.

»Darum geht es nicht«, sagte sie.

»Worum dann?«

»Sie … sie riecht irgendwie … anders.«

»Was meinst du?«

»Sie riecht … ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll.

Sie riecht irgendwie … nach Gefahr.«

Hahaha! Sieht so aus, als wäre das mit der extrem

schnellen Auffassungsgabe doch nicht übertrieben gewesen!

Was willst du damit sagen?

Zumindest die alte Wölfin scheint dich direkt durchschaut

zu haben.

Mir wurde heiß. War das so? Ich überlegte fieberhaft, was

Liam ihr alles über mich erzählt haben könnte. Wusste sie das mit Amilia? Hatte sie jetzt Angst vor mir?

Könnte das schaden?

Halt, ich musste mich wieder auf das Gespräch zwischen

Florence und Liam konzentrieren.

»Ich weiß, dass sie anders riecht. Aber hast du schon mal

in Erwägung gezogen, dass es daran liegen könnte, dass sie einfach ein verwandelter Werwolf ist?«, verteidigte Liam mich.

»Liam, sei nicht dumm. Sie riecht nicht normal«, beharrte

seine Mom.

»Weil du schon so viele verwandelte Werwölfe gerochen

hast und deshalb genau weißt, wie sie riechen müssen?«, konterte er.

»Hör auf damit. Du weißt genau, dass keiner von uns oder

aus unserem Rudel jemals etwas mit einem Verwandelten zu tun hatte.«

»Eben. Meinst du dann nicht, es könnte damit

zusammenhängen, dass ich noch nie ein Weibchen zu Hause hatte und du sie einfach als Konkurrenz ansiehst? Sie deshalb sprichwörtlich nicht riechen kannst?«

Dass er seiner Mutter so viel Paroli bot, war ich von Liam

gar nicht gewöhnt, doch es schmeichelte mir.

Was er wohl macht, wenn er herausfindet, dass seine

Mutter Recht hat?

Sei still.

»Liam, ich möchte dir Emma nicht ausreden. Ich möchte

nur, dass du vorsichtig bist. In Ordnung?«

Letzte Aktualisierung: 28.02.2020